Ausgangssperre, als Regelbrecher beschuldigt, von Fernsehteams belagert – Familie Stavarache gehört zu den Bewohnern des Neuköllner Quarantäne-Wohnkomplexes.
Eine Reportage von Selina Bettendorf und Kai
Müller
im Berliner TAGESSPIEGEL vom 26.06.2020
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Aus Anlass des 50.. Todestages haben die Roma im Arnold Fortuin Haus am Freitag vor dem Bild von Arnold Fortuin Blumen niedergelegt.
Im Arnold Fortuin Haus in der Harzer Straße in Berlin Neukölln sind Menschen mit dem Corona Virus infiziert. Die Bewohner halten die angeordnete Quarantäne sehr vorbildlich ein.
Am Tag zuvor war der Bürgermeister von Berlin Neukölln, Martin Hikel in der Harzer Straße und hat sich bei den Bewohnern für ihr vorbildliches Verhalten bedankt und um Verständnis gebeten. Auch fand er Worte, dass das Sprechen über den Ausbruch der Infektionskrankheit nicht die Bewohner stigmatisieren darf. Gerad an einem Ort, der den Namen eines Mannes trägt, der in sehr dunkler Zeit sich gerade für Sinti und Roma eingesetzt hat.
INFO:
Hetze gegen Roma nach
Corona-Ausbruch in Berlin
Die Corona-Pandemie wird zur Gefahr für sozial Schwache
Gottesdienst zu Ehren von Arnold Fortuin in St. Michael-Saarbrücken
Ist das so, da wo Roma leben ist Schmutz, Müll und Lärm? Dieses Klischee schien auch auf die Bewohner der Häuser Harzer Straße Ecke Treptower Straße bis 2011 zu zutreffen. Die Medien berichteten dann auch politisch ganz korrekt von den Müllhäusern und dem Romadorf in Berlin Neukölln. Benjamin Marx von der Aachener SWG sah das anders und kaufte für die Aachener Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft die Wohnanlage in der die Menschen in einer prekären Situation lebten. Nach dem die Aachener SWG Eigentümer der Häuser geworden ist, begannen auch sofort die Sanierungsmaßnahmen der Wohnungen und Häuser.
Die Bewohner wurden in diese Arbeiten mit eingebunden, es entstand Vertrauen und eine Begegnung auf Augenhöhe.
Die Öffentlichkeit und die Medien reagierten erstaunt über die Entwicklung der Häuser, ganz offen wurde die Frage gestellt „lohnt sich das denn für die ...?“. Viele warteten darauf, dass die Revitalisierung der Wohnanlage scheitert. Doch im September 2012 konnten die Arbeiten erfolgreich abgeschlossen werden und bei einem großen Fest am 14.09.2012 erhielten die Häuser den Namen „Arnold Fortuin Haus“. Der Namensgeber war ein katholischer Priester, der im 3. Reich sehr vielen Sintis und Roma das Leben gerettet hat, ein „Oskar Schindler“ der Sinti und Roma. Er war der Religionslehrer von Benjamin Marx.
„Die Philosophie lehrt tun, nicht reden“ sagte Seneca bereits vor 2000 Jahren. Dieser Gedanke prägt die Arbeit im Arnold Fortuin Haus. Ana Berger richtete im Auftrag des neuen Vermieters Deutschkurse für Erwachsene ein, mittwochs standen die Bewohner an dem kleinen Büro im Arnold Fortuin Haus Schlange um mit Marx und Berger ihre Probleme zu besprechen. „Wie Deutschland funktioniert“ wollte gelernt sein. Es war ein gegenseitig intensives Kennenlernen. 2012 sind dann die Aktiven der Harzer Straße zum ersten mal mit den Roma in ihr Heimatdorf Fântânele gefahren, sie waren neugierig geworden woher die Menschen kamen und warum sie gekommen sind. In Rumänien leben etwa 1,2 Millionen Roma, in ganz Europa gibt es etwa 12 Millionen Sinti und Roma, das sind mehr Menschen als Belgien Einwohner hat oder Dänemark und Finnland zusammen.
Es sind EU-Bürger, sie leben aber sehr oft ausgrenzt und stigmatisiert. Viele Europäer hatten noch nie Kontakt mit Sinti oder Roma, aber fast jeder hat seine Meinung und Vorstellung, wie diese Menschen sind.
Am 20. September 2013 erhielt die Aachener SWG und Benjamin Marx den Architekturpreis für Stadtentwicklung. Ein Preisgericht unter dem Vorsitz des früheren Daimler-Chefs und Berliner Ehrenbürgers Edzard Reuter hatte das Roma-Projekt unter sechs Kandidaten ausgewählt, „wegen des besonderen unternehmerischen Muts“.
Das Preisgeld wurde für eine Jugendfahrt
nach Fântânele gestiftet, Kennenlernen durch Begegnung.
Im Juli 2014 fahren Berliner Jugendliche zusammen mit den Roma aus dem Arnold Fortuin Haus in deren Heimatdorf Fântânele in Rumänien. Die jungen Menschen sind neugierig geworden, wie leben Roma, was macht ihre Kultur aus? Sie wollen im Roma Dorf gemeinsam eine Zeit des Kennenlernen und Verstehens erleben. In einem Internetblog werden sie von ihren Erfahrungen berichten. Demnächt hier mehr ...
von Barbara John
Berlin- Neukölln, bekannt für negative Schlagzeilen, hat nun mit einer europaweit einmaligen Vorzeigesiedlung für rumänische Roma positiv von sich reden gemacht In wenigen Tagen soll sie mit einem Bürgerfest eingeweiht werden. Kirche und Staat feiern dann zwar gemeinsam die Fertigstellung der 137 Wohnungen in der Harzer Straße, aber das war dann schon alles an Gemeinsamkeit, denn der Anteil der Stadt an dem „Leuchtturm-Projekt der Integration in der Hauptstadt“, wie es in der Einladung der Wohnungsgesellschaft heißt, war bisher gleich null. Konzept, Ausführung und Finanzierung, alles kam aus der Hand der zur katholischen Kirche gehörenden Aachener Siedlungsfirma aus Köln.
Diese Arbeitsteilung stürzt Berlin in ein Dilemma. Die Baufirma setzt mit ihrem Engagement Maßstäbe, wie arme, bildungsferne Osteuropäer, insbesondere Roma, überhaupt eine klitzekleine Chance bekommen, eines Tages in Berlin auf eigenen Füßen stehen zu können. Wäre nämlich der inzwischen legendäre Projektinitiator Benjamin Marx nicht gekommen, würden die Familien noch immer in den vermüllten, rattenverseuchten Häusern vegetieren, die der überschuldete Eigentümer schließlich den Kölnern günstig verkaufen musste. Die skandalösen Zustände waren zwar ein Ärgernis für die Stadt, aber die Räumungsdrohungen bestanden nur aus heißer Luft.
Was aber wird aus den vielen heruntergekommenen Häusern, in denen noch viele Arbeitssuchende aus Osteuropa hausen? Eifern jetzt die berlineigenen Wohnungsbaugesellschaften nach? Schaffen sie auf Anweisung des Senats bezahlbare Wohnungen mit umfassender sozialer Betreuung für Armutsmigranten? Wohl kaum. Politische Zwänge und Abwägungen hindern sie daran. Der kirchliche Wohltäter war davon frei. Zum Berliner Modell taugt deshalb der Häuserkomplex nicht. Für die 500 Männer, Frauen und Kinder aus Rumänien aber, die jetzt in der Harzer Straße leben, zeigt die Integrationsampel jetzt erst mal auf Grün. Doch das gilt nicht für weitere Zuzügler. Rumänien und andere Länder müssen eigene erfolgreiche Modelle für die soziale Gleichstellung ihrer Minderheit entwickeln. Übt die EU keinen spürbaren Druck aus, dann allerdings geht die Auswanderung weiter, speziell nach Berlin mit hohen Erwartungen.
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